top of page

Was mich die Demenz meiner Oma über das Leben gelehrt hat

Meine Oma wird nächsten Monat 97 Jahre alt und sie ist eine wunderbare Frau. Sie achtet immer noch auf ihr Aussehen, schminkt sich jeden Morgen und zieht sich schick an. Sie hat meistens gute Laune und wenn sie mal über ihre Vergesslichkeit klagt oder über die Schmerzen, die sie vor allem seit ihrem Oberschenkelhalsbruch vor ein paar Jahren nicht losgeworden ist, sagt sie immer wieder nur mit erhobenem Haupte: “Alt werden ist nichts für Feiglinge”. Sie ist mir ein Vorbild und sollte ich so alt werden wie sie, möchte ich sein wie sie.

Bis vor ein paar Jahren war sie noch top fit, ist Auto gefahren und hat für die Großfamilie gekocht. Mittlerweile hat sie die Demenz eingeholt. Ja man kann fast sogar dabei zuschauen, wie sie vereinsamt. Und wie durch diese Vereinsamung die Demenz in Hochgeschwindigkeit zunimmt. Natürlich, wer wollte denn noch das Risiko eingehen sie zu umarmen bei der Begrüßung, zwischendurch oder bei der Verabschiedung. Alle haben wie empfohlen zwei Meter Abstand gehalten. Es wollte doch niemand Schuld daran haben, dass sie durch ein zu nahe kommen erkrankt, an Corona natürlich, und dann verstirbt. Also halten wir selbstverständlich alle Abstand. Letzten Sommer, ich habe ihre Körperhaltung, ihre Stimmung und ja ihr ganzes Sein beobachtet, wenn wir mit mehreren Familienmitgliedern bei ihr waren und alle Abstand gehalten haben. Und ich habe es kaum ertragen, sie so leiden zu sehen und ihr dabei zusehen zu können, wie sie vereinsamt, obwohl wir alle im selben Raum stehen. Und sie gehört nicht zu den Menschen, die das offen zeigen. Beim nächsten Besuch bin ich einfach vor Freude auf sie losgestürmt und habe sie herzhaft umarmt. Das war der schönste Moment seit langem für sie. Und auch für mich. Woher ich das so sicher weiß? Sie weiß mittlerweile nicht mal mehr, was sie einem 5 Minuten vorher erzählt hat. Als ich nach 6 Wochen aber wieder zu Besuch kam und sie mich erblickt hat, hat sie angefangen zu Strahlen, ihre Arme nach oben gestreckt und mich bei der erneuten Umarmung kaum wieder losgelassen. Seitdem reagiert sie fast immer so wenn sie mich sieht. Etwas was sie nicht vergisst, was ihr innerliche Freude bereitet. Ich bin immer noch die Einzige, die sie umarmt.

Nun fragt ihr euch sicher, was mich meine Oma damit gelehrt hat? Sie hat mich gelehrt, wie ich mein Leben leben muss, damit ich im hohen Alter und trotz Demenz noch immer glücklich und mit erhobenem Haupte, so aussichtslos die Lage auch sein kann, jeden Morgen aufstehe, mich hübsch mache und versuche, in jedem Tag das Beste zu sehen. Es sind die Geschichten, die sie uns manchmal im 5 Minuten-Takt wiederholend erzählt und vor allem sich selbst. Sie hat nicht mehr viele Erinnerungen, aber es sind die Momente in ihrem Leben, in denen sie stolz auf sich war, in denen sie herausragend war, in denen sie mutig und vielleicht auch einfach besonders war. Diese kleinen Geschichten hören wir immer wieder und wieder von ihr und sie halten sie bei guter Laune und mit starkem Selbstbewusstsein. Und das macht mir Mut. Mut meinen Träumen zu folgen, besondere Momente zu erleben, verrückte Dinge auszuprobieren und immer wieder etwas zu finden, was ich noch nie gemacht habe, um die Begeisterung zu spüren, die man nur beim 1. Mal spürt. Vor allem wenn man etwas Besonderes, etwas Verrücktes oder Leichtsinniges macht, was man sich vielleicht nicht unbedingt zugetraut hat.

ree

Nicht nur, dass das Leben so viel mehr Spaß macht. Es sind die Momente, an die wir uns später zurückerinnern. Die Momente, die uns beim alt werden unser Selbstbewusstsein erhalten. Diese Erinnerungen, diese Geschichten, die wir anderen und uns selbst erzählen können, kann einem selbst die Demenz nicht nehmen. Ich wünsche uns allen viele wunderbare Geschichten und Momente, in denen wir vielleicht auch mal die Kontrolle verlieren und beim wieder Ausrichten über uns selbst hinauswachsen. Damit wir stolz auf uns sind. Jetzt und auch später.


 
 
 

Kommentare


bottom of page